28 Dez Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Urteil vom 15.06.2012, Az. 25 U 112/11
In dem Rechtsstreit
des Herrn (…), Beklagten und Berufungsklägers,
gegen
Frau (…), gesetzlich vertreten durch ihre Betreuerin, Frau (…), Klägerin und Berufungsbeklagte,
hat der 25. Zivilsenat in (…) des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht (…), den Richter am Oberlandesgericht (…) und den Richter am Oberlandesgericht (…) aufgrund der mündlichen Verhandlung vom (…)
f ü r R e c h t e r k a n n t:
Auf die Berufung des Beklagten wird das Grund- und Teilurteil der 9. Zivilkammer des Landgerichts (…) vom 29. Juni 2011 sowie das ihm zugrundeliegende Verfahren aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht (…) zurückverwiesen, dem auch die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens vorbehalten bleibt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe:
I.
Die Klägerin nimmt den Beklagten auf Rückabwicklung eines notariell beurkundeten Grundstückskaufvertrages vom 10.02.2003, mit dem sie vom Beklagten das Anwesen (…) in (…) zu einem Kaufpreis von 195.000 € erworben hatte, mit der Begründung in Anspruch, zum Zeitpunkt Vertragsschlusses sei sie geschäftsunfähig gewesen. Nach Erhebung der Klage beim Landgericht (…) war für die Entscheidung des Rechtsstreits zunächst der originäre Einzelrichter der 9. Zivilkammer des Landgerichts, Richter am Landgericht (…), zuständig, der am 31.01.2007 einen Beweisbeschluss erließ. Nach seinem Ausscheiden aus der 9. Zivilkammer wurde er durch die Richterin (…) ersetzt, bei der es sich um eine Richterin auf Probe handelte, die noch nicht über einen Zeitraum von einem Jahr in einer Zivilkammer des Landgerichts tätig war. Daraufhin übertrug die 9. Zivilkammer mit Beschluss vom 15.11.2007 das Verfahren gemäß § 348 a Abs. 1 ZPO der Richterin (…) als Einzelrichterin zur Entscheidung. Nach weiteren Dezernatswechseln innerhalb der 9. Zivilkammer folgte Richter (…) und Richter Dr. (…) der Richterin (…) der Richter (…) als Einzelrichter. Nach dessen Ausscheiden aus der 9. Zivilkammer traf der Vorsitzende der 9. Zivilkammer, Vorsitzender Richter am LG (…), am 09.08.2010 folgende schriftliche Anordnung:
„… Sein Dezernat wird erst in der ersten Hälfte des nächsten Monats neu besetzt. Aller Voraussicht nach durch einen Richter mit erster Stelle. Daher besteht wohl Zuständigkeit der Kammer in voller Besetzung, weil die Übertragung dieses langwierigen Rechtsstreits auf den Einzelrichter nach § 348 a Abs. 1 ZPO nicht in Betracht kommt. …”
Gleichzeitig beraumte der Vorsitzende Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 18.01.2011 an. In diesem Termin verhandelte die 9. Zivilkammer in voller Besetzung nunmehr mit dem Richter (auf Probe) Dr. (…), als Berichterstatter.
Im Anschluss an einen weiteren Termin zur mündlichen Verhandlung am 07.04.2011 verkündete die 9. Zivilkammer am 29.06.2011 ein Grund- und Teilurteil, mit dem es die von der Klägerin gestellten Klageanträge zu 1) bis 3) dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärte und gleichzeitig feststellte, dass sich der Beklagte seit dem 10.01.2006 im Verzug der Annahme des Grundstücks (…) in (…) befinde.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung des Beklagten, mit der er die Aufhebung des landgerichtlichen Urteils und des ihm zugrundeliegenden Verfahrens sowie die Zurückweisung des Rechtsstreits zur erneuten Verhandlung an das Landgericht begehrt. Der Beklagte rügt in erster Linie, dass die Entscheidung des Landgerichts unter Verstoß gegen den Grundsatz des gesetzlichen Richters deshalb ergangen sei, weil mit dem angefochtenen Urteil die 9. Zivilkammer anstatt des eigentlich zuständigen Einzelrichters der 9. Zivilkammer den Rechtsstreit entschieden habe.
Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil und beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
II.
Die fristgerecht nach Zustellung des landgerichtlichen Urteils (11.07.2011) eingelegte und innerhalb der verlängerten Berufungsbegründungsfrist begründete Berufung des Beklagten ist zulässig (§§ 511, 513, 518, 519, 520 ZPO).
Sie hat auch in der Sache Erfolg. Nachdem der Beklagte im Termin zur mündlichen Verhandlung am 15.06.2012 in erster Linie einen Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt hat, war das Grund- und Teilurteil des Landgerichts vom 29.06.2011 sowie das ihm zugrundeliegende Verfahren aufzuheben und der Rechtsstreit gemäß § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO an das Landgericht zurückzuverweisen. Das angefochtene Urteil vom 29.06.2011 leidet an einem wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne von § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO, weil es nicht durch den im Zeitpunkt der Entscheidung zuständigen Richter und damit unter Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters gemäß Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG ergangen ist (vgl. zum Vorliegen eines Verfahrensmangels insoweit allgemein: BGH NJW 2008, S. 1672; OLG Frankfurt am Main MDR 2003, S. 1375; Zöller-Heßler, ZPO, 29. Aufl. 2012, § 538 ZPO Rdn. 14 m. w. Nachw.).
Ursprünglich war für die Entscheidung des Rechtsstreits gemäß § 348Abs. 1 S. 1 ZPO der originäre Einzelrichter der 9. Zivilkammer des Landgerichts (…), Richter am Landgericht (…), zuständig, weil zunächst kein Fall des § 348 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 oder 2 ZPO vorlag. Demgemäß erließ auch der Einzelrichter am 31.07.2007 einen Beweisbeschluss.
Nach Ausscheiden des Richters aus der 9. Zivilkammer und seinem Ersatz durch die Richterin (…), die als Richterin auf Probe zu diesem Zeitpunkt noch nicht über einen Zeitraum von einem Jahr in einer Zivilkammer des Landgerichts tätig war, wurde der Rechtsstreit ipso iure zur Kammersache, weil es sich gemäß § 348 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 ZPO nicht mehr um eine in den Zuständigkeitsbereich des originären Einzelrichters der 9. Zivilkammer unterfallende Sache handelte (vgl. zur Zuständigkeit der Kammer bei Dezernatswechsel von einem Planrichter auf einen Proberichter: Zöller-Greger, a.a.O., § 348 ZPO Rdn. 6 a m. w. Nachw.). Dem hat die 9. Zivilkammer des Landgerichts auch dadurch Rechnung getragen, dass sie mit Beschluss vom 15.11.2007 die Sache nunmehr gemäß § 348 a Abs.1 ZPO auf die Richterin (…) als Einzelrichterin zur Entscheidung übertrug. Gesetzlicher Richter im Sinne von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG war aufgrund dieser wirksamen Übertragung der Sache nunmehr wieder der Einzelrichter bzw. die Einzelrichterin der 9. Zivilkammer. Nach dieser Übertragung auf den Einzelrichter wäre eine Übernahme des Rechtsstreits wiederum durch die 9. Zivilkammer nur dann in Betracht gekommen, wenn der zuständige Einzelrichter die Sache der Kammer gemäß § 348 a Abs. 2 Nr. 1 ZPO zur Entscheidung über eine Übernahme vorgelegt und die Kammer den Rechtsstreit nach Anhörung der Parteien mit Beschluss gemäß § 348 a Abs. 2 Satz 2 ZPO unter Bejahung der Voraussetzungen des § 348 a Abs. 2 Nr. 1 ZPO übernommen hätte. Etwas anderes ergibt sich nicht deshalb, weil nach der Beschlussfassung vom 15.11.2007 weitere Wechsel in dem Einzelrichterdezernat der 9. Zivilkammer stattgefunden haben. An die Zivilkammer eines Landgerichts fällt ein Rechtsstreit nämlich nur im Wege des § 348 a Abs. 2 ZPO zurück, nicht jedoch bei einem Richterwechsel oder Verhinderung oder Überlastung des zuständigen Richters (Zöller-Greger, a.a.O., § 348 a ZPO Rdn. 5).
Obwohl vorliegend der zuletzt zuständige Einzelrichter den Rechtsstreit der 9. Zivilkammer nicht gemäß § 348 a Abs. 2 Nr. 1ZPO zur Entscheidung über eine Übernahme und entsprechende Beschlussfassung vorgelegt hat, hat die 9. Zivilkammer den Rechtsstreit gleichwohl allein aufgrund der bloßen „Anordnung” des Vorsitzenden der Kammer vom 09.08.2010 übernommen.
Damit erfolgte die Übernahme einer gemäß § 348 a Abs. 1 ZPO dem Einzelrichter der 9. Zivilkammer übertragenen Sache durch die Kammer ohne Einhaltung des dafür vorgesehenen Verfahrens und Übertragungsbeschluss, was wegen der daraus resultierenden falschen Besetzung des Gerichts bei Erlass des Urteils vom 29.06.2011 und der damit einhergehenden Verletzung des Artikel 101 Abs. 1 S. 2 GG einen Verfahrensfehler darstellt (vgl. zum Vorliegen eines Verfahrensfehlers insoweit allg.:Zöller-Greger, a.a.O., § 348 a ZPO, Rdn. 23; Musielak-Wittschier, ZPO, 6. Aufl. 2012, § 348 a ZPO, Rdn. 15 mit weiteren Nachweisen).
Sein Recht, diesen Verfahrensfehler zu rügen, hat der Beklagte nicht gemäß § 295 Abs. 1ZPO wegen Rüge erst im Berufungsverfahren verloren. Die den gesetzlichen Richter betreffenden Verfahrensnormen sind nämlich unverzichtbar, so dass es sich bei einer Verletzung des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG um einen nach § 295 Abs. 2 ZPO unheilbaren Mangel des Verfahrens handelt (vgl. OLG Frankfurt am Main, MDR 2003, S. 1375 m. w. Nachw.).
Ebenso wenig ist der Beklagte mit seiner Rüge gemäß § 348 a Abs. 3 ZPO aus geschlossen, wonach auf eine erfolgte oder unterlassene Vorlage oder Übernahme ein Rechtsmittel nicht gestützt werden kann. Diese Vorschrift erfasst nicht den vorliegenden Fall, weil der zuständige Einzelrichter der 9. Zivilkammer den Rechtsstreit weder der Kammer zur Entscheidung vorgelegt hat noch hätte vorlegen müssen, die Parteien insoweit kein rechtliches Gehör hatten und die Kammer auch eine Übernahmeentscheidung überhaupt nicht getroffen hat.
Insoweit hat auch keine stillschweigende Übernahme des Rechtsstreits durch die 9. Zivilkammer stattgefunden. Dem steht bereits entgegen, dass die Übernahme allein aufgrund der Anordnung des Vorsitzenden vom 09.08.2010, also gerade nicht durch die mit drei Richtern besetzte Kammer, erfolgte, und der Vorsitzende annahm, es bestehe aufgrund der Umstände ohne weiteres Zuständigkeit der Kammer. Im Übrigen erfordert die Übernahme immer eine förmliche Entscheidung durch Beschluss gemäß § 348 a Abs. 2 S. 3 ZPO, was der Möglichkeit einer stillschweigenden Übernahme von vornherein entgegensteht.
Schließlich hat die Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Landgericht ungeachtet des Vorliegens der weiteren Voraussetzungen des § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO, wonach die Sache nur dann an das Gericht des ersten Rechtszuges zurückverwiesen werden darf, wenn aufgrund des Verfahrensmangels im ersten Rechtszug eine umfangreiche oder aufwendige Beweisaufnahme notwendig ist, zu erfolgen. Ein im ersten Rechtszug unterlaufener Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 ZPO führt nämlich zwingend zur Zurückverweisung, wenn das erstinstanzliche Verfahren keine Grundlage für das Berufungsverfahren darstellen kann (BGH NJW 1993, S. 600; BGH NJW-RR 1998, S. 699; BGH NJW2008, S. 1672; so auch OLG Koblenz, MDR 2011, S. 1257). So liegen die Dinge hier. Im Hinblick darauf, dass die 9. Zivilkammer unzuständig war, sind das dort gewonnene Verhandlungsergebnis und die daraufhin von der Kammer getroffene Entscheidung im vorliegenden Berufungsverfahren unverwertbar.
Nach alledem war der Rechtsstreit auf die Berufung des Beklagten zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung hinsichtlich der Kosten des Berufungsverfahrens bleibt der abschließenden erstinstanzlichen Entscheidung vorbehalten.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 10 ZPO.
Die Revision ist gemäß § 543 Abs. 2 ZPO nicht zuzulassen, weil der Rechtsstreit weder grundsätzliche Bedeutung hat, noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert.